Kapverden: Terrassen statt Tempeln

76 Millionen Pflastersteine, hat unser Guide Nicolin errechnet, wurden auf der Verbindungsstraße von Porto Novo im Süden nach Ribeira Grande im Nordosten in mühsamer Handarbeit verlegt. 20 Jahre werkten unzählige Arbeiter ab den 1950er Jahren, um die 36 Kilometer fertigzustellen. Seit die neue Küstenstraße 2009 eröffnet wurde, wird die Kopfsteingepflasterte Piste vorwiegend von Radfahrern, Minibussen für Wanderer und Sammeltaxis benutzt.

Nach einer Nacht in Mindelo, der Hauptstadt von São Vicente, und einer einstündigen Fährfahrt nach Porto Novo, hat uns Nicolin auf Santo Antão empfangen. Unser deutscher Guide Markus Leukel, der seit 2010 in Mindelo lebt, begleitet die Gruppe während der gesamten Tour. Auf jeder Insel steht uns zudem ein lokaler Begleiter zur Seite. Da die Wanderwege auf den Kapverden nicht beschildert sind, fällt Nicolin eine sehr wesentliche Rolle zu.

Langsam quält sich der Minibus die Serpentinen zum Cova Krater auf rund 1.500m Seehöhe hinauf. Regen fällt hier – wie auch auf den anderen Inseln nur sehr wenig, wenn, dann im Norden. Den Mond stell ich mir nicht so gebirgig vor, die Farben könnten aber ähnlich sein: Brauntöne in allen Schattierungen, grau, rötlich, schwarz. Je höher wir kommen, desto mehr Bäume und Sträucher gedeihen. Die Erklärung ist einfach: Die Gebirgskette hält die seltenen Niederschläge davon ab, in den Süden vorzudringen. Rund um den Cova Krater, ein erloschener Vulkan, wird seit rund 90 Jahren ein Aufforstungsprogramm durchgezogen. Dank eines eigenen Mikroklimas gedeihen hier Eichen, Akazien, Zypressen oder auch Eukalyptus. Der Boden des Kraters wird für den Anbau von Getreide und Mais sowie für Viehhaltung genutzt. Hier starten wir unsere erste Wanderung, oder, vielmehr Spaziergang, hinauf an den Kraterrand. Die Überraschung ist groß: Von dort eröffnet sich der fantastische Blick auf das Ribeira do Paúl, ein tiefgrünes Tal mit üppiger, tropischer Vegetation.

Mittag bei Mimi

Wir nehmen nicht den steilen Eselspfad hinunter, sondern fahren weiter in ein Seitental, wo Mimi in ihrem Privathaus ein kleines Restaurant für Touristengruppen eingerichtet hat. Einfach, blitzsauber und regional. Brotfrucht, Süßkartoffeln, Yam, Maniok, Karotten, Erbsen, Kürbis und Reis. Dazu Thunfisch, Huhn oder Schwein, meistens gegrillt. Gewürze werden sparsam eingesetzt. „Man isst, um satt zu werden. Die ältere Generation, so wie meine Schwiegermutter, hat noch Hungersnöte miterlebt“, erklärt Markus, Musikwissenschaftler und Perkussionist, der in Mindelo eine Musikschule betreibt. Auch in den kommenden Tagen werden wir vorwiegend bei Einheimischen essen.

Die lokale Bevölkerung ins Reiseprogramm zu integrieren, ist ein wesentlicher Aspekt bei „Reisen mit Sinnen“, einem deutschen Veranstalter, der sich auf nachhaltiges Reisen spezialisiert hat. Örtliche Guides, familiäre Unterkünfte und Gasthäuser sorgen für eine wirtschaftliche Grundlage, gleichzeitig bieten sie den Besuchern Möglichkeiten für Begegnungen mit Einheimischen.

Fürstliche Belohnung

Es fällt schwer, sich von Mimis gemütlichem Balkon loszureißen. Doch wir haben noch rund drei Stunden Wanderung vor uns, 400 Meter hinauf, 300 Meter hinunter, bis nach Caibros, einem Ort in der Mitte von Nirgendwo. Schmale Pfade winden sich durch die Terrassen steil nach oben. Kaum vorstellbar, wie viel Knochenarbeit in der Bewirtschaftung dieser kleinen Flecken Erde, abgestützt mit Mauern aus groben Steinen, stecken muss. „Terrassen sind unsere Tempel, manche sind mehr als 200 Jahre alt“, weiß Nicolin um die Vorliebe europäischer Reisender für alte Gebäude Bescheid. Am gegenüberliegenden Hang ein ähnliches Bild. Dazwischen türkise und gelbe Häuschen sowie prächtige, magentafarbene Bougainvillea-Sträucher. Ich kann mich nicht satt sehen. Jeder Fotostopp wird zur willkommenen Pause, um Luft zu holen. Auf die zweite Portion des unwiderstehlichen Karamellpuddings hätte ich wohl doch verzichten sollen! Für die nächsten Tage hab‘ ich meine Lektion gelernt. Ein voller Bauch geht nicht gern.

Die schroffen Berge mit steilen Schluchten und Tälern dazwischen machen Santo Antão zur perfekten Wanderinsel. Der höchste Berg, der Tope de Coroa im Westen der Insel, ist zwar nur 1.979m hoch. Aber da fast alle Touren auf Meeresniveau beginnen, braucht es schon ein bisschen Kondition. Eben geht es praktisch nie dahin. Wandern für Fortgeschrittene, also. Die Belohnung für die Anstrengung ist aber immer fürstlich: Ausblicke, die man nicht so schnell vergisst.

Die schönste Aufgabe

Auch der nächste Tag führt uns über gewundene Pfade durch Terrassen hinauf auf einen Pass und weiter nach Chã de Igreja. Das heutige Pensum ist mit fünf Stunden, 600m bergauf und 900m bergab festgesetzt. Unterwegs treffen wir auf Zuznine, der uns in seinem alten Steinhaus freundlich empfängt. Nachsichtig lächelnd lässt er uns seine einfache Unterkunft erkunden. Der alte Mann ist schon 84 und hat mehr als 70 Jahre hier gelebt. Erst vor Kurzem musste Zuznine aus gesundheitlichen Gründen zu seiner Schwiegertochter ins Dorf ziehen. Bis heute geht er jeden Tag – immer barfuß eine knappe halbe Stunde zu seinem kleinen Grundstück, pflegt die Mangound Papayabäume sowie die Terrassen, die er vor vielen Jahren selbst angelegt hat. Für ihn die schönste Aufgabe der Welt.

Fit bis ins Alter

Zu Mittag machen wir in der „Casa Joana“ Rast. „Küchenchefin“ Joana lebt in ihrem bescheidenen Haus mit vier Generationen unter einem Dach. Alle helfen zusammen. Die Männer arbeiten in der Landwirtschaft, Joana kocht Gemüse aus eigenem Anbau, Tochter und Mutter helfen mit, der Enkelsohn bestaunt neugierig die bunten Wanderrucksäcke. „Der Tageslohn beträgt im Schnitt acht Euro. Mit der Bewirtung von Wanderern kann Joana ein paar hundert Euro im Monat verdienen, die als Schulgeld genutzt werden“, erklärt Nicolin, der so warmherzig wie ein eigener Sohn begrüßt wird.

Am Nachmittag steigen wir über sandigstaubige Wege durch einen Canyon in Richtung Meer hinunter. Chã de Igreja ist ein verschlafener Ort, der von der namensgebenden Kirche dominiert wird. Am Hauptplatz wurde vor Kurzem ein öffentlicher FitnessPark errichtet, der von einer Gruppe Seniorinnen mit viel Gelächter genutzt wird.

Kunstwerke aus Basalt

Die Wanderung entlang der Steilküste gilt als eine der schönsten Routen der Insel. Sechs Stunden Gehzeit, 900m bergauf, 850m bergab stehen heute auf dem Programm. Unter uns donnern die Wellen des türkisblauen Atlantiks schäumend ans Ufer. Ober uns türmen sich die Felswände, die stellenweise schwarzen Basalt, der in seiner eleganten Glätte an moderne Plastiken erinnert, freigeben. Ein Paradies auch für Geologen! Wir Wanderenthusiasten konzentrieren uns vorerst auf den Kreuzweg mit seinen 14 Stationen des Leidensweges Jesu, der in Serpentinen steil nach oben führt. Und wieder werden wir mit einem atemberaubenden Anblick belohnt: Auf einer Seite das Meer, auf der anderen Fontainhas mit seinen wie Vogelnester an die Felsen geklebten pastellfärbigen Häusern. Zu Recht gilt das kleine Dorf als eines von weltweit zehn mit der schönsten Aussicht.

„Ich arbeite mit dem Herzen“

Vorbei an einem kleinen, längst verlassenen jüdischen Friedhof stapfen wir nach Ponta do Sol. In der kleinen Pension Música do Mar mit nur acht Zimmern empfängt uns Carla Costa mit einem strahlenden Lächeln. Sie spricht perfekt Deutsch. Zum Studium wollte sie nach Brasilien oder Deutschland gehen. Brasilien war ihr aus den auf den Kapverden sehr beliebten Telenovelas bekannt, so entschied sie sich für Europa. Ein Kulturschock. „Es war sehr schwer für mich, aber ich hab‘ mich entschieden, glücklich zu sein“, bringt sie ihre positive Einstellung auf den Punkt. „Geld braucht man, aber Glück ist das Wichtigste. Ich arbeite und lache mit dem Herzen.“ Und genau das vermittelt sie, wenn sie sich um die Wünsche ihrer Gäste kümmert.

Mehrmals pro Woche spielen ihr Vater und Onkel Musik in der Bar. Da dauert es nicht lange, bis Gäste und Einheimische zum Tanz aufspringen, erst jeder für sich, dann jede mit jedem und umgekehrt.

Romeo und Juliet

Atemberaubend. Anstrengend. Wunderschön. Drei Stunden steigen wir 1.000 Höhenmeter bergauf. Terrassen, bizarre Steinformationen, ein paar Ziegen und Esel. Weit und breit kein Mensch. Wir haben Glück. Der Himmel ist tiefblau, nur ein paar attraktive, weiße Federwolken – perfekte Fotokonditionen. Auf der Hochebene Chã de Lagoa bietet sich ein völlig anderes Bild. Flach, wüstenartig – seit mehr als einem Jahr hat es nicht mehr geregnet – ein paar unverwüstliche Akazien und Agaven. Langsam fällt Nebel ein und hüllt die Gipfel hinter uns in eine weiße Decke.

Am Ende der Tour erwarten uns „Romeo und Juliet“. Nein, nicht die unglücklich Liebenden. Sondern Ziegenfrischkäse mit Papaya-Marmelade. So heißt die herrlich süßsalzige Kombination, die gerne als Dessert serviert wird.

Don Alfredo

Meine letzte Wanderung – die Gruppe reist weiter nach Santiago und Fogo – führt in eine scheinbar andere Welt. Das Ribeira do Paúl. Die tiefgrüne Kornkammer der Insel, in der Zuckerrohr für Grogue angebaut wird, ebenso wie Mangos, Feigen, Bananen, Yam oder Mais. Sogar Kaffee wächst hier. Das Wasser, das sich im Cova Krater sammelt und unterirdisch abfließt, wird in „Levadas“ aufgefangen und für den Feldbau genützt.

Im Paúl Tal treffe ich Alfred Mandl, Don Alfredo, wie er hier genannt wird, den Vorreiter des nachhaltigen Tourismus auf Santo Antão. Der kauzige Österreicher aus Kottingbrunn, der seit 36 Jahren hier lebt, ist ganz schön vielseitig. Er hat das Potenzial der Insel für Wandertouren erkannt, die ersten Karten gezeichnet, betreibt mit seiner Frau Christine, bereits seine fünfte Ehepartnerin, eine Zuckerrohrschnaps-Brennerei, ein Gasthaus samt Bar, einen Wanderreiseveranstalter und baut biologisches Gemüse an.

Die Zukunft der Kapverden sieht er im Dienstleistungssektor. Sein Ziel ist, mehr Akademiker am Land anzusiedeln. Dazu vergibt er Arbeitsplätze. Ob wenigstens ein paar seiner elf Kinder nach Paúl zurückkommen, ist jedoch ungewiss. Ich hingegen möchte auf alle Fälle zurückkommen. Nicht nur nach Santo Antão. Der Vulkan Pico do Fogo lockt.

Kompakt

Die Kapverden bestehen aus 15 Inseln, neun davon bewohnt. Jede hat ihren eigenen Charakter. Rd. 570km westlich von Senegal. Von Mindelo ist die Flugzeit nach Fortaleza / Brasilien kürzer als nach Lissabon. Seit 1975 unabhängig als Inselrepublik Kap Verde.

  • Hauptstadt: Praia auf Santiago.
  • Baden: Besonders auf den Inseln Sal und Boa Vista sind internationale Hotelketten angesiedelt, die teilweise All Inclusive-Urlaube anbieten. Bei Surfern, Kite-Surfern, Seglern und Tauchern ebenso beliebt wie bei Strandurlaubern.
  • Wandern: Neben Santo Antão auch Fogo, São Vicente, São Nicolau und Santiago. Auch für Individualreisende geeignet. Sehr hilfsbereite und entspannte Bevölkerung.
  • Beste Reisezeit: Durchschnittstemperatur: 24° – 30°C, Wassertemperatur geringfügig niedriger. Geringe Luftfeuchtigkeit und Einfluss der Winde machen hohe Temperaturen angenehm. Regenfälle am ehesten August / September.
  • Mitbringsel: Grogue (Zuckerrohrschnaps), Pontche (Punsch) in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Wein aus Fogo. Salz aus den Salinen in Sal, CDs mit kapverdischer Musik in Mindelo.
  • Nicht verpassen: Live Musik in einer Bar, auf der Straße oder auch im privaten Rahmen

Die Autorin Elo Resch-Pilcik war mit dem Veranstalter Reisen mit Sinnen (www.reisenmitsinnen.de) und TAP Air Portugal (www.flytap.com) unterwegs.